8. Mai 2013

WIE IM MÄRCHEN? (Marios Märchenstunde Teil 5)



[Teil 1] [Teil 2] [Teil 3] [Teil 4]


Fast jeder kennt klassische Grimm-Märchen wie "Aschenputtel", "Der Froschkönig" und "Rapunzel". Doch fast niemand kennt sie...




SEI KEIN FROSCH!

In "Der Froschkönig" spielt eine junge Prinzessin mit ihrem liebsten Spielzeug, einer goldenen Kugel.
--- Nein, das ist.. äh, nein.
Das ihr auch immer etwas Sexuelles draus machen müsst, schämt euch!

Jedenfalls fällt die Kugel in einen tiefen Brunnen. Dort haust zufälligerweise ein sprechender Frosch, welcher der Prinzessin verspricht, ihr Spielzeug aus dem Brunnen zu holen. Als Lohn dafür verlangt er, als Geselle im Schloss aufgenommen zu werden, sowie mit der Prinzessin persönlich speisen und im gleichen Bett schlafen zu dürfen. Die Königstochter willigt ein, obwohl sie eigentlich nicht vorhat, die Forderungen des forschen Frosches zu erfüllen.
Doch am nächsten Tag kommt das Tier ins Schloss und will seinen Wucherlohn fürs Kugel-aus-dem-Brunnen-holen. Der König zwingt seine Tochter, ihr Versprechen einzuhalten und so muss sie sich mit dem Frosch nun Tisch und Bett teilen.




Der Frosch, der in Wahrheit ein verwandelter Prinz ist und durch einen Kuss zurückverwandelt wird - den gibt's in diesem Märchen nicht. Stattdessen schmettert die Prinzessin hier vor lauter Zorn und Ekel den wehrlosen Frosch mit aller Kraft gegen die Wand, um ihn zu ermorden.
Aus mir nicht hundertprozentig verständlichen Gründen bricht dies den Zauber und der Frosch ist plötzlich ein Prinz.

"Sie packte den Frosch mit zwei Fingern und trug ihn hinauf in ihre Kammer, legte sich ins Bett und statt ihn neben sich zu legen, warf sie ihn bratsch! an die Wand; "da nun wirst du mich in Ruh lassen, du garstiger Frosch!"

Aber der Frosch fiel nicht todt herunter, sondern wie er herab auf das Bett kam, da wars ein schöner junger Prinz."


Viele Menschen glauben, das Märchen "Schneewittchen" ende mit einem magischen Kuss, was jedoch in den Märchen der Brüder Grimms nicht passiert, wohl aber in der bekannten Disney-Verfilmung [mehr dazu hier].
Beim Froschkönig liegt der Fall ähnlich. Auch hier ist der Kuss eine recht moderne Änderung des Originals, vielleicht inspiriert von anderen Geschichten, in denen andere verwandelte Prinzen durch einen Kuss in ihre wahre Gestalt zurückgezaubert werden: Wie in der Disney-Version von "Die Schöne und das Biest"  - nicht aber im Märchen, auf dem der Film basiert (dort wird das Biest durch Tränen von seinem Fluch befreit).

In keiner der traditionellen Variationen des Märchens, die es neben der Grimm-Version noch so gibt, ist ein Kuss für die Metamorphose von Frosch in Mensch verantwortlich. Ein mit dem Froschkönig verwandtes schottisches Märchen wurde bereits 1548 in "The Complaynt of Scotland" aufgeschrieben und übertrifft die Grimm-Geschichte in punkto Coolness sowohl im Märchennamen als auch im Ende: Die Erzählung "The Well of the World's End" endet nämlich damit, dass der Frosch sich in einen Prinzen verwandelt - nachdem die Prinzessin ihm auf eigenen Wunsch hin den Kopf abschneidet...

"Chop off my head, my hinny, my heart,
Chop off my head, my own darling;
Remember the promise you made to me,
Down by the cold well so weary."

("The Well at the World's End", Version aus "English Fairy Tales" [1890] von Joseph Jacobs)




Das Fehlen der Kuss-Szene ist nicht trivial. "Man muss viele Frösche küssen, um den Traumprinzen zu finden" ist nicht gleich "Man muss viele Frösche an die Wand werfen, um den Traumprinzen zu finden".
Die Botschaft der ersten Variante ist in etwa, dass man Menschen (oder Frösche) nicht nach ihrem Aussehen beurteilen sollte, weil das Äußere täuschen kann und nur das Innere wirklich wichtig ist. Wenn man sich die Mühe macht, hinter die Fassade zu blicken, könnte man überrascht werden.
In der ursprünglichen Version mit dem an die Wand geknallten Frosch hat die Prinzessin allerdings kein Interesse an der Persönlichkeit des Frosches, sondern behandelt ihn wie Scheiße und versucht alles, um ihn loswerden und schreckt dabei auch vor Gewalt nicht zurück. Trotzdem heiratet sie den Prinzen, nachdem der Froschfluch gebrochen ist, weil er nun gut aussieht und Macht und Reichtum besitzt. Und die Moral der Geschicht'?...
Nun seid ihr dran.

Es stellt sich heraus, dass ihr gar nicht so Unrecht hattet. Die prominentesten Deutungen interpretieren das Märchen als eine sexuelle Metapher.
Zitat aus Wikipedia:

"Das Märchen stellt quasi durch die grüne Farbe des Froschs auch das Prinzip der ersten sprunghaft initiierenden Öffnung, sprich aber auch allgemeinen Hoffnung dar: Erlösung vom singulär tierischen, naiv unschuldigen Zustand und erwachend waches Wachstum (der kleine Frosch wird zum großen Prinzen)"

Der Frosch wird als Phallussymbol gedeutet, was mir Sorgen um den Urheber dieser These bereitet. Er sollte wohl wirklich mal zum Arzt gehen, wenn sein Penis in irgendeiner Weise wie ein Frosch aussieht.
Jeder muss wissen, wie glaubwürdig er diese Interpretationen findet, ich will da gar nicht werten und etwas Negatives über diesen absurden Schwachsinn sagen.

Man betrachte die Geschichte einmal aus der Perspektive des Prinzen im Froschpelz. Die Prinzessin gibt sich einzig und allein mit ihm ab, weil er ihr ein Versprechen aufgedrängt hat und ihr Vater sie zwingt, es einzuhalten. Und selbst dann kann sie die Gegenwart des Frosches nicht ertragen und versucht, ihn zu töten. Muss wohl Liebe sein.
Oder sind meine persönlichen Erfahrungen da nicht repräsentativ?..



MAKE YOUR OWN KIND OF MUSIC

Wenn wir uns an Details aus Grimm-Geschichten falsch erinnern, liegt das oft an neueren, bekannteren Versionen, in denen klassische Märchen oft stark abgeändert wurden. Manchmal liegt es aber auch an stark irreführenden Titeln. So geht es in dem Märchen "Die Bremer Stadtmusikanten" um vier Tiere, die im gesamten Märchen nicht musizieren und sich auch zu keinem Zeitpunkt in der Stadt Bremen aufhalten.

Zu Beginn der Story erfährt ein Esel auf einem Bauernhof, dass er bald getötet werden soll, da er alt ist und keinen Nutzen mehr hat. Obwohl er wohlgemerkt die menschliche Sprache beherrscht und als Attraktion damit wohl die ein oder andere Mark einbringen könnte...
Der Esel flüchtet vom Hof und trifft unterwegs drei weitere todgeweihte Tiere, eine Katze, ein Hund und ein Hahn, die sich ihm anschließen. Sie halten sich für gute Musiker und beschließen, nach Bremen zu reisen, um dort eine Karriere als Stadtmusikanten anzustreben. Doch dorthin gelangen sie nie...



Am ersten Abend der Reise entdecken die vier Gefährten ein Haus, in dem eine Bande von Räubern haust, die gerade beim Abendessen zusammen sitzt. Gemeinsam ersinnen die Tiere einen Plan, um die Bude zu besetzen. Sie stapeln sich übereinander und machen so laut Krach wie sie nur können. Der Esel gibt sich zum Glück für seine Freunde mit der untersten Position in der Formation zufrieden.
Durch das "entsetzliche Geschrei", das die Tiere mit ihren Stimmen machen, und dadurch dass sie die Fensterscheibe zertrümmern, lassen sich die Räuber schließlich vertreiben. So können sich die Tiere in Ruhe ihre Mägen vollstopfen. Da es ihnen in dem Haus so gut gefällt, beschließen sie, dort zu bleiben und ihren Lebensabend dort zu verbringen.

Einige Zeit später kehren die Räuber noch einmal zurück und werden von den Hausbesetzern gewaltsam vertrieben.

"Aber die Katze verstand keinen Spaß, sprang ihm ins Gesicht, spie und kratzte. Da erschrak er gewaltig, lief und wollte zur Hinterthüre hinaus, aber der Hund, der da lag, sprang auf und biß ihm ins Bein, und als er über den Hof an der Miste vorbei rennte, gab ihm der Esel noch einen tüchtigen Schlag mit dem Hinterfuß"


Obwohl die ungleichen Gefährten also keine Musikanten werden, leben sie zumindest den Lifestyle und lassen sich nieder, wo es ihnen gerade passt, zerstören die Einrichtung, fressen die Vorräte auf, ohne jemals daran zu denken, dafür zu bezahlen, und verprügeln Leute, die ihnen absolut nichts getan haben.
Rock'n'Roll, Baby!




ALLES EINE ZOPFSACHE!

Meine Erinnerung an das Märchen "Rapunzel" geht in etwa so: Eine junge Frau mit enormem Haarwuchs, aber einer Abneigung gegen Frisöre, wird gegen ihren Willen in einem Turm festgehalten. Ein Prinz kommt vorbei und klettert an Rapunzels heruntergelassenem Zopf in den Turm und... happy end.

Aber das ergibt in etwa soviel Sinn wie ein Gefängnisfilm, der damit endet, dass Komplizen von Inhaftierten es schaffen, in ein Gefängnis einzubrechen.
Da ich das Märchen neulich einmal in der originalen Grimm-Fassung aus der 1. Auflage der "Kinder- und Hausmärchen" von 1812 gelesen habe, muss ich sagen: Danke, liebe Grimms, wieder eine meiner Kindheitserinnerungen zerstört!

Die Geschichte beginnt damit, dass eine schwangere Frau ständig Heißhungerattacken bekommt. Da leckere Lebensmittel noch nicht erfunden waren, wirft sie ein Auge auf die Rapunzeln ihrer Nachbarin und steigert sich ein ganz klein wenig in ihr Verlangen rein.

"Eines Tages stand die Frau an diesem Fenster und sah hinab, da erblickte sie wunderschöne Rapunzeln auf einem Beet und wurde so lüstern darnach, und wußte doch, daß sie keine davon bekommen konnte, daß sie ganz abfiel und elend wurde. 
Ihr Mann erschrack endlich und fragte nach der Ursache; "ach wenn ich keine von den Rapunzeln aus dem Garten hinter unserm Haus zu essen kriege, so muß ich sterben.""


Ihr Mann stibitzt der Nachbarin einige der Rapunzeln, nach denen dann schließlich auch seine Tochter benannt werden wird. Der Begriff "Rapunzel" ist nicht mehr gebräuchlich, was gut ist, denn die heutzutage übliche Bezeichnung hatte das Märchen noch seltsamer erscheinen lassen, als es ohnehin schon ist. "Feldsalat, Feldsalat, lass dein Haar herunter!" klingt einfach nicht so gut...

Die Nachbarin ist eine böse Fee namens Frau Gothel. Als sie den Diebstahl bemerkt, fordert sie als Preis für ihr Gemüse das ungeborene Kind des Paares. Die werdenden Eltern haben eine solche Angst vor der Frau, dass sie einwilligen. Kurz nach der Geburt holt sich Frau Gothel das Baby ab. Als Rapunzel zwölf Jahre alt ist, sperrt die Fee das Mädchen in ein Turmverlies, das weder über eine Tür noch eine Treppe verfügt. Fragt sich nur, wie sie das anstellt...

Immer wenn die Fee das eingesperrte Mädchen besucht, ruft sie den Satz "Rapunzel, Rapunzel, lass dein Haar herunter" und klettert dann am Zopf von Rapunzel den Turm hinauf. Wenn ihr mich fragt, hätte sie sich die Anrede "Rapunzel, Rapunzel" auch sparen können, es ist ja sonst niemand in dem Turm und daher wird aus dem Kontext relativ klar, wer gemeint ist.




Eines Tages kommt ein Prinz an dem Turm vorbei, hört Rapunzel singen und verliebt sich sofort in sie. Er beobachtet sie eine Weile und sieht, wie die Fee an Rapunzels Zopf den Turm hochklettert. Als die Fee wieder verschwunden ist, ruft der Prinz laut: ...hab ich vergessen, irgendwas halt, jedenfalls lässt Rapunzel daraufhin ihr Haar herunter und der Prinz klettert zu ihr in den Turm.

Um ihre Kopfhaut nicht allzu sehr zu belasten, wickelt Rapunzel den Zopf, bevor sie ihn herunterlässt, immer an einem Fensterhaken fest. Damit ist sie eigentlich nur einen Schritt von einer gelungenen Flucht entfernt. Nun hätte sie nur etwas Scharfes gebraucht (z.B. eine Scherbe aus der Fensterscheibe), um ihren Zopf abzuschneiden und sie hätte sich selbst daran abseilen können.
Allerdings würde die böse Fee sie wahrscheinlich verfolgen. Daher wäre es wohl das Beste, sie würde die Alte einfach umbringen. Dazu könnte sie beispielsweise ihren Zopf benutzen und die Fee damit erwürgen. Das wäre doch mal eine coole Kampftechnik, falls mal jemand auf die Idee kommen sollte, Märchenfiguren als toughe Superhelden zu inszenieren. Aber das wäre ja lächerlich!




Allerdings darf man nicht vergessen, dass Rapunzel im Märchen ja erst zwölf Jahre alt ist. Somit wäre eine Gewaltszene total unangebracht und nicht altersgerecht.
Unsere Erzählung geht damit weiter, dass der Prinz mehrfach Sex mit der heißen Zwölfjährigen hat.

Einige Zeit später beklagt sich Rapunzel darüber, dass ihr ihre Klamotten nicht mehr passen. Eine Gewichtszunahme könnte man ja durchaus mit dem Bewegungsmangel erklären, der entsteht, wenn man Tag und Nacht in einem Turm gefangen gehalten wird. Doch die Fee vermutet sofort richtig, dass Rapunzel schwanger ist.

"Rapunzel erschrack nun anfangs, bald aber gefiel ihr der junge König so gut, daß sie mit ihm verabredete, er solle alle Tage kommen und hinaufgezogen werden. So lebten sie lustig und in Freuden eine geraume Zeit, und die Fee kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: "sag’ sie mir doch Frau Gothel, meine Kleiderchen werden mir so eng und wollen nicht mehr passen.""



Ab der zweiten Auflage ist Rapunzel nicht mehr schwanger. Dadurch, dass die Grimms diesen Aspekt umgeschrieben haben, musste nun eine andere Szene her, die erklärt, wie die Fee Rapunzel auf die Schliche kommen. Die Kreativ-Session die zu der neuen Variante geführt hat, stelle ich mir in etwa so vor:

"Also wir sind uns einig, dass wir die Schwangerschaft rausschreiben?"
- "Ja. Aber wie erfährt denn die Fee stattdessen von dem Prinzen?"
- "Wir brauchen etwas Unerwartetes, Cleveres."
- "Mmmmh."
- "Vielleicht...
Ne, lieber...
Oder...
Nein, das ist auch nicht gut.
Hast du eine Idee?"
- "Wie wäre es, wenn...
zum Beispiel...
Ach, ich weiß auch nicht."
- "Man darf Genies auch nicht unter Zeitdruck setzen. Uns fällt bestimmt etwas Großartiges ein! Und wenn es die ganze Nacht dauert!"

[Ein Freund der Grimms kommt aufregt ans Fenster und ruft:] - "Hey, vor der Taverne kämpft ein Hund gegen einen Bär! Das müsst ihr euch anschauen!"

Und zwei Minuten später ward diese Perle der Literaturgeschichte erschaffen:

"Die Zauberin aber kam nicht dahinter, bis eines Tages das Rapunzel anfing und zu ihr sagte: "sag’ sie mir doch Frau Gothel, sie wird mir viel schwerer heraufzuziehen als der junge König.""



Die Fee schickt Rapunzel in ein Haus in der Einöde, wo sie fortan allein (ab der zweiten Auflage) oder mit den Zwillingen, die sie einige Monate später bekommt, leben muss. Zuvor schneidet sie ihr aber noch die langen Haare ab und stellt damit dem Prinzen eine Falle. Als er Rapunzel besuchen will, lässt sie den abgeschnittenen Zopf herunter und der Prinz klettert daran hoch. Oben angekommen trifft er auf Frau Gothel, die ihm mitteilt, er werde Rapunzel nie wieder sehen. Vor Trauer stürzt sich der Prinz aus dem Turm. Er überlebt den Sturz, schafft es aber irgendwie, dabei zu erblinden.
Von nun an irrt er weinend durch die Gegend, auf der Suche nach Rapunzel.

Ein paar Jahre später kommt er zufällig an Rapunzels Haus in der Wildnis vorbei, erkennt sie an ihrer Stimme und fällt ihr um den Hals. Als ihre Freudentränen in seine Augen fallen, ist er nicht mehr blind. (Obwohl wir zuvor eigentlich erfahren haben, dass seine Augen "ausgefallen" waren...)

"Da wurde der Königssohn ganz verzweifelnd, und stürzte sich gleich den Thurm hinab, das Leben brachte er davon, aber die beiden Augen hatte er sich ausgefallen, traurig irrte er im Wald herum, aß nichts als Gras und Wurzeln, und that nichts als weinen. 

Einige Jahre nachher geräth er in jene Wüstenei, wo Rapunzel kümmerlich mit ihren Kindern lebte, ihre Stimme däuchte ihm so bekannt, in demselben Augenblick erkannte sie ihn auch und fällt ihm um den Hals. Zwei von ihren Thränen fallen in seine Augen, da werden sie wieder klar, und er kann damit sehen, wie sonst."


An dieser Stelle endet die Geschichte. Vermutlich leben die beiden zusammen glücklich bis an ihr Lebensende. Wenn die böse Fee das nächste Mal nach ihrer Gefangenen schaut.





AUF DEM FALSCHEN FUSS

Das Märchen "Aschenputtel" ist so populär, dass wir die Titelfigur unter verschiedenen Namen kennen, wie "Aschenbrödel" (im DDR-Märchenfilm) oder "Cinderella" (in der Disney-Zeichentrickversion, die auf der französischen Version von Charles Perrault basiert).

In der Fassung der Brüder Grimm handelt das Märchen von einem Mädchen, das neben dem Herd schlafen muss und daher immer schmutzig ist und deswegen von ihren Stiefschwestern und ihrer Stiefmutter hämisch "Aschenputtel" genannt wird.
Aschenputtel wird von ihrer Stiefmutter und deren Töchtern regelmäßig gemobbt und als persönliche Sklavin missbraucht, wogegen ihr Vater anscheinend keine Einwände hat.

Als der hiesige Kronprinz eine Braut für sich sucht, hält er ein riesiges, drei Tage dauerndes Fest, zu dem auch Aschenputtels Stiefschwestern geladen sind. Als Aschenputtel den Wunsch äußert, auch zu der Feier gehen zu wollen, trägt ihr die böse Stiefmutter stattdessen die Aufgabe auf, aus einer Schüssel voller Linsen die schlechten auszusortieren.
Glücklicherweise kommen zwei sprechende Tauben gerade zur rechten Zeit zum Fenster hineingeflogen und bieten ihre Hilfe an.

"Da kniete es sich vor den Heerd in die Asche und wollte anfangen zu lesen, indem flogen zwei weiße Tauben durchs Fenster und setzten sich neben die Linsen auf den Heerd; sie nickten mit den Köpfchen und sagten: "Aschenputtel, sollen wir dir helfen Linsen lesen?" "Ja, antwortete Aschenputtel:
die schlechten ins Kröpfchen,
die guten ins Töpfchen.""




So bescheren die Tauben dem Mädchen einen frühen Feierabend.
Am nächsten Tag bekommt Aschenputtel eine ähnliche Sortier-Aufgabe, die wiederum von den sprechenden Tauben erledigt wird. Danach fragen sie Aschenputtel, ob sie nicht auch zu dem königlichen Ball möchte. Zunächst winkt sie ab, da sie nicht das Richtige zum Anziehen hat. Doch auch daran haben die cleveren Vögel gedacht. Auf ihren Rat hin begibt sich Aschenputtel zum Grab ihrer Mutter, wo ein Zauberbaum ihr ein prächtiges Kleid schenkt. Zudem erscheint auf magische Weise eine prächtige Kutsche, die Aschenputtel zum Schloss fährt.

Kleider machen Leute: Aschenputtel sieht nun so gut aus, dass nicht einmal ihre Stiefschwestern sie wiedererkennen, als sie auf der Party auftaucht. Der Prinz hält sie für eine ausländische Prinzessin und verliebt sich sogleich in sie.
Eigentlich hätte all dies auch am ersten Abend des Festes passieren können, der erzähl-technisch vollkommen überflüssig ist. Aber im Märchen muss halt immer alles drei mal passieren.

Am dritten Abend passiert das Gleiche wie am Abend zuvor. Aschenputtel bekommt eine langwierige Aufgabe, die die Tauben für sie erledigen und ein neues prachtvolles Ballkleid vom Zauberbaum. Wieder steht Aschenputtel im Zentrum der Aufmerksamkeit, besonders beim Prinzen und wieder erkennen ihre Stiefschwestern sie nicht. Der entscheidende Unterschied ist, dass der Prinz diesmal Vorkehrungen getroffen hat, um zu verhindern, dass Aschenputtel wie am Vorabend verschwindet, ohne ihre Identität preiszugeben.
So hatte er die Treppe mit Pech einschmieren lassen, was Aschenputtel allerdings nicht davon abhält, das Fest erneut inkognito zu verlassen. Jedoch verliert sie dabei einen ihrer goldenen Schuhe.



Der Prinz versucht, die unbekannte Prinzessin anhand ihres Schuhs wiederzufinden, da dieser außergewöhnlich klein ist. Als er in Aschenputtels Haus kommt, freuen sich die bösen Stiefschwestern, da sie sehr kleine Füße haben. Ihre pragmatische Mutter gibt ihnen ein Messer in die Hand und den Ratschlag, ein Stück von ihrem Fuß abzuschneiden, falls der Schuh doch nicht passt. Warum auch nicht?!

"Hört, sagte die Mutter heimlich, da habt ihr ein Messer, und wenn euch der Pantoffel doch noch zu eng ist, so schneidet euch ein Stück vom Fuß ab, es thut ein bischen weh, was schadet das aber, es vergeht bald und eine von euch wird Königin." 


Vielleicht habe ich da irgendwas nicht richtig verstanden, aber die ganze Schuh-Nummer kommt mir unnötig kompliziert vor. Der Prinz kennt Aschenputtel nach zwei Abenden nicht wirklich gut und hat sich wohl hauptsächlich wegen ihres guten Aussehens in sie verliebt. Würde er sie daher nicht bereits wiederkennen, wenn er sie erneut zu Gesicht bekommt?
Sie hat ja keine Maske getragen, sondern nur andere Klamotten. Wenn man Menschen nur wiedererkennen würde, wenn sie die selbe Kleidung tragen wie am Tag des Kennenlernens - dies wäre eine sehr seltsame, einsame Welt, andererseits aber auch voll von lustigen, sitcom-artigen Verwechslungen.

Absurde Geschichten gab es damals. Aufgrund unserer überlegenen modernen Popkultur wissen wir es heute besser. Durch "Superman" lernen wir, dass andere Kleidung nicht ausreicht, um seine Identität geheimzuhalten - man muss zudem noch eine falsche Brille aufsetzen!
Es sei denn natürlich, man ist He-Man, klar.
Sowas sollte wirklich zur Allgemeinbildung gehören!

Der Prinz sucht also die unbekannte Schönheit anhand ihrer glücklicherweise abnormal kleinen Schuhgröße. Der goldene Pantoffel passt allerdings auch Aschenputtels Stiefschwester, nachdem sie sich ein Stück von ihrem Fuß amputiert hat. Der Prinz denkt sich, wenn der Schuh passt, habe er wohl die Richtige gefunden und reitet mit ihr zum Schloss. Doch die sprechenden Tauben verpetzen sie, als sie am Grab von Aschenputtels Mutter vorbeikommen.

"Das Mädchen hieb ein Stück von der Ferse ab, zwängte den Fuß in den Schuh, verbiß den Schmerz und gieng heraus zum Königssohn. Da nahm er sie als seine Braut aufs Pferd und ritt mit ihr fort. Als sie an dem Haselbäumchen vorbeikamen, saßen die zwei Täubchen darauf und riefen
"rucke di guck, rucke di guck,
Blut ist im Schuck:
der Schuck ist zu klein,
die rechte Braut sitzt noch daheim.""


Jetzt wird es etwas unglaubwürdig, aber wie gesagt, im Märchen muss immer alles drei mal passieren: So probiert die andere Stiefschwester den exakt gleichen Trick nochmal, bevor der Prinz die Richtige findet. Sie schneidet ihre Zehen ab, da sie von ihrer Mutter weiß, dass das ja nichts schadet und einen sicherlich auch nicht beim Gehen beeinträchtigt. Der Trick funktioniert allerdings auch beinahe wieder, denn der Prinz hat nichts aus der vorigen Nummer gelernt, überprüft den Fuß der Frau nicht und reitet erneut mit seiner vermeintlichen Braut davon. Doch auch sie wird von den sprechenden Tauben verraten.
Selbst wenn die Tauben geschwiegen hätten - ich weiß nicht genau, wie sich die junge Dame das Ganze vorgestellt hatte. Der Prinz ist sicherlich nicht der hellste Kopf, aber selbst er hätte doch irgendwann die fehlenden Zehen an seiner Ehefrau bemerkt, oder? Vielleicht nicht.



Auf jeden Fall reitet der Prinz wieder zurück, Aschenputtel probiert den Schuh an und er passt. Wer hätte das erwartet.
"Eine sehr schöne Szene für das Ende des Märchens und um süße, unschuldige Kinder ins Reich der Träume zu schicken" - dies haben die Brüder Grimm wohl nicht gedacht und daher in späteren Auflagen eine Szene hinzugefügt, in der die Tauben in Hitchcock-Manier den Stiefschwestern die Augen aushacken.

"Als die Hochzeit mit dem Königssohn sollte gehalten werden, kamen die falschen Schwestern, wollten sich einschmeicheln und Theil an seinem Glück nehmen. Als die Brautleute nun zur Kirche giengen, war die älteste zur rechten, die jüngste zur linken Seite: da pickten die Tauben einer jeden das eine Auge aus. Hernach als sie heraus giengen, war die älteste zur linken und die jüngste zur rechten: da pickten die Tauben einer jeden das andere Auge aus."

So wird ein Schuh draus!




A WOLF AT THE DOOR

Eines der bekanntesten Märchen der Brüder Grimm ist "Rotkäppchen". Darin wird ein junges Mädchen von ihrer Mutter zu ihrer Oma geschickt, um ihr einen Korb mit Kuchen und Wein zu bringen.
Die Großmutter lebt allerdings abgelegen in einem Wald, eine halbe Stunde von Rotkäppchens Dorf entfernt. Das war wohl damals die Alternative dazu, alte Menschen in ein Seniorenheim abzuschieben.

Auf dem Weg zur Oma begegnet Rotkäppchen einem sprechenden Wolf, der sie fragt, wohin sie gehe. Rotkäppchen verrät ihr, wo ihre Großmutter wohnt und zieht nichtsahnend weiter.




Schließlich erreicht sie das Haus ihrer Oma. Doch die sieht irgendwie etwas anders aus, als Rotkäppchen sich an sie erinnert. Nämlich exakt so wie ein Wolf.
Das Mädchen merkt, dass die Oma an diesem Tag etwas seltsam ausschaut, nicht aber dass es ganz offensichtlich nicht ihre Großmutter ist - was nur damit zu erklären ist, dass die Familie die arme alte Frau normalerweise in ihrem einsamen Haus im Wald derart verwahrlosen lässt, dass sie nicht so ohne weiteres auf den ersten Blick von einem wilden Wolf zu unterscheiden ist.

"Drauf ging es zum Bett und zog die Vorhänge zurück, da lag die Großmutter und hatte die Haube tief ins Gesicht gesetzt und sah wunderlich aus. 
"Ei Großmutter, was hast du für große Ohren!" – "daß ich dich besser hören kann." – 
"Ei Großmutter, was hast du für große Augen!" – "daß ich dich besser sehen kann." – 
"Ei Großmutter was hast du für große Hände!" – "daß ich dich besser packen kann." – 
"Aber Großmutter, was hast du für ein entsetzlich großes Maul!" – "daß ich dich besser fressen kann." 

Damit sprang der Wolf aus dem Bett, sprang auf das arme Rothkäppchen, und verschlang es."




Rotkäppchen bemerkt nicht, dass ihre Großmutter plötzlich nicht nur anders aussieht, sondern auch eine andere Stimme hat, was gewöhnlicherweise bedeutet, dass es sich nicht um die Person handelt, die man erwartet hatte. Auch gibt sie sich mit den Erklärungen für Omas merkwürdiges Aussehen zufrieden und glaubt ihr, dass sie seit ihrem letzten Treffen bedeutende, aber evolutionstechnisch nützliche Mutationen erfahren hat.
Das Mädchen wird vom Wolf gefressen. Ende.

In der französischen Fassung des Märchens, bereits 1697 von Charles Perraut aufgeschrieben, ist hier nun tatsächlich Schluss.
Die Grimm-Version tackert zusätzlich noch ein Happy End an, in dem ein Jäger aus dem Nichts auftaucht. Dieser tötet den Wolf und befreit Rotkäppchen und ihre Großmutter unversehrt aus dessen Magen. Allerdings nicht in dieser Reihenfolge, wie man es vielleicht erwarten würde.

"Rothkäppchen aber holte große schwere Steine, damit füllten sie dem Wolf den Leib, und wie er aufwachte, wollte er fortspringen, aber die Steine waren so schwer, daß er sich todt fiel.

Da waren alle drei vergnügt, der Jäger nahm den Pelz vom Wolf, die Großmutter aß den Kuchen und trank den Wein, den Rothkäppchen gebracht hatte, und Rothkäppchen gedacht bei sich: du willst dein Lebtag nicht wieder allein vom Weg ab in den Wald laufen, wenn dirs die Mutter verboten hat."




So wird die Moral der Geschichte, nicht vom Wege abzukommen und in den gefährlichen Wald zu wandern, stark abgeschwächt, da dies im Endeffekt für Rotkäppchen keine negativen Konsequenzen hat und der Wald durch den Tod des Wolfes sicherer wird.

Doch es ist sowieso im Kontext der Erzählung eine sehr seltsame Moral. Denn in der Grimm-Version trifft das Mädchen den Wolf auf dem rechten Weg und verrät ihm den Aufenthaltsort der Oma. Erst danach überredet der Wolf das Mädchen, den Weg zu verlassen, um für ihre Großmutter Blumen zu sammeln. Das bedeutet, selbst wenn Rotkäppchen nicht vom Wege abgekommen wäre, hätte der Wolf seinen Plan genauso umsetzen können und hätte sich nur ein wenig damit beeilen müssen.

Falls man jemanden besuchen will, der im Wald wohnt, ist man meistens dazu gezwungen, den Wald vorher zu durchqueren. Wenn zum Beispiel der Privathelikopter mal wieder in Reparatur ist. Das nervt immer, wenn das passiert, nicht wahr?!
Vielleicht hätte die Moral lieber so umformuliert werden sollen, dass man seltsamen Gestalten, die im Wald Kinder ansprechen, eher nicht vertrauen sollte. Doch selbst dann hätte der Wolf das leckere Rotkäppchen auf der Stelle fressen können und hätte nur auf die knochige, alte Oma verzichten müssen.
Daher wäre es vielleicht ein noch besserer Ratschlag, sein Kind nicht allein in einen Wald voller wilder Tiere zu schicken - so komisch es auch klingen mag...



GLÜCK IM UNGLÜCK

"Hans im Glück" handelt, wie sollte es anders sein, von einem jungen Mann namens Hans, der zu Beginn der Geschichte unverschämt reich ist und dann durch Missgeschicke und seine Naivität am Ende völlig pleite ist.

Für seinen sieben Jahre währenden Gesellendienst bekommt Hans einen Goldklumpen in der Größe seines Kopfes. Er tauscht das Gold gegen ein Pferd, da er zu faul ist, zu Fuß zu gehen und seinen Goldklumpen mit sich zu schleppen. Als das Pferd ihn abwirft, tauscht er es gegen eine Kuh, die ihm beim Melken mit der Hinterhufe gegen den Kopf tritt. So tauscht er die Kuh gegen ein Schwein, das er wiederum gegen eine Gans tauscht, die er schließlich gegen zwei Wetzsteine tauscht. Doch leider fallen die Steine in einen Brunnen und so steht Hans mit leeren Händen da.
Aber anstatt sich darüber zu ärgern, ist er heilfroh, nicht mehr die Verantwortung tragen zu müssen, die mit seinen kurzzeitigen Besitztümern verbunden waren.

"Hans, als er sie mit seinen Augen in die Tiefe hatte versinken sehen, sprang vor Freuden auf, kniete dann nieder und dankte Gott mit Thränen in den Augen, daß er ihm auch diese Gnade erwiesen und auf eine so gute Art von den Steinen befreit, das sey das einzige, was ihm noch zu seinem Glück gefehlt. 
"So glücklich wie ich, rief er aus, giebt es keinen Menschen unter der Sonne." 
Mit leichtem Herzen und frei von aller Last sprang er nun, bis er daheim bei seiner Mutter war."


Wahrscheinlich hat Hans dabei an die vier edlen Wahrheiten des Buddha gedacht und eingesehen, dass Leiden durch Verlangen entsteht und man durch die Eliminierung von Gier und Verlangen das Leid besiegen kann. Um es mit den Worten von Tyler Durden aus "Fight Club" auszudrücken: "The things you own end up owning you".
Oder wie es einmal ein großer Sprechgesangs-Artist poetisch auf den Punkt brachte: "Mo Money, Mo Problems!".



DOWN THE RABBIT HOLE

Das Märchen von der "Frau Holle" handelt von zwei Schwestern: Eine ist schön und fleißig, die andere faul und hässlich. Die Mutter liebt ihre faule Tochter, nicht aber die schöne. Ein Grund dafür wird in der ersten Fassung der Geschichte noch nicht genannt. Erst in späteren Auflagen der "Kinder- und Hausmärchen" wird uns eine Erklärung für die Ungleichbehandlung nachgeliefert: Nun ist nur die faule Tochter das leibliche Kind der Frau und die fleißige ihre Stieftochter.
Die hübsche Schwester muss alle Hausarbeiten erledigen. Eines Tages fällt ihr beim Spinnen eine Spindel in den Brunnen. Die böse Stiefmutter zwingt sie, die Spindel zurückzuholen, wobei das Mädchen in den Brunnen fällt. Auch hier unterscheidet sich die erste Fassung von späteren drastisch. In der ersten Auflage gibt es keine Spindel. Hier fällt die fleißige Tochter einfach so in den Brunnen wie ein Trottel.

"Einmal war das Mädchen hingegangen, Wasser zu holen, und wie es sich bückte den Eimer aus dem Brunnen zu ziehen, bückte es sich zu tief und fiel hinein." 


Das Mädchen verliert das Bewusstsein und wacht auf einer Blumenwiese auf. Dort begegnet sie einem sprechenden Ofen, der sie bittet, Brote aus ihm herauszuholen, was sie auch tut. Danach kommt sie an einem Apfelbaum vorbei, der sie anfleht, ihn zu schütteln. Seine Früchte sind reif und jedes Kind weiß ja, dass Apfelbäume auf hilfsbereite Menschen angewiesen sind, denn die reifen Äpfel fallen ja nicht von allein ab. Das wäre ja absurd!

Die junge Frau begegnet schließlich der Frau Holle und arbeitet eine Weile für sie. Trotz ihrer unglücklichen Familiensituation bekommt das fleißige Mädchen irgendwann Heimweh und bittet Frau Holle, nach Hause gehen zu dürfen. Zuvor wird sie aber noch mit einem Goldregen überschüttet.
In der echten Welt wäre dies wohl nicht unbedingt eine gute Sache, da Gold einen Schmelzpunkt von über 1000 Grad Celsius hat. Aus der historischen Dokumentation "A Game of Thrones" wissen wir, dass mit geschmolzenem Gold überzogen zu werden eher negative Konsequenzen für den menschlichen Körper haben könnte.



Zurück in der langweiligen echten Welt, wo es keine Magie gibt, wird das Mädchen von einem sprechenden Hahn begrüßt.


"Darauf ward das Thor verschlossen und das Mädchen befand sich oben auf der Welt, nicht weit von seiner Mutter Haus und als es in den Hof kam, saß der Hahn auf dem Brunnen und rief:
"Kikeriki
unsere goldene Jungfrau ist wieder hie!""





Die Mutter schickt daraufhin ihre faule Tochter ebenfalls in die Brunnenwelt, um dadurch reich zu werden. Doch sie macht erwartungsgemäß alles falsch. Sie ignoriert das Bitten und Flehen des Ofens und des Apfelbaums und macht bei Frau Holle einen miesen Job. Als sie wieder nach Hause gehen möchte, überzieht sie Frau Holle als Lohn für ihren schlechten Job mit flüssigem Pech, das ihr Leben lang nicht mehr weggeht.

Das scheint schon ein wenig drastisch. Schließlich ist das Mädchen zwar stinkend faul, was bei ihrer Erziehung nicht verwundert, nicht aber wirklich bösartig. Wenn in unserer Zeit jeder faule Mensch von seinem Arbeitgeber für immer mit Teer überzogen werden würde, lebten wir in einer recht düsteren Welt.
Obwohl die Strafe, lebenslang entsetzlich enstellt zu sein, an sich schon recht drastisch ist, kann sich der sprechende Hahn bei der Wiederkehr einen hämischen Kommentar nicht verkneifen. Was für ein Arsch.


"Da kam die Faule heim, aber sie war ganz mit Pech bedeckt, und der Hahn auf dem Brunnen, als er sie sah, rief
"kikeriki,
unsere schmutzige Jungfrau ist wieder hie."

Das Pech aber blieb fest an ihr hängen und wollte, so lange sie lebte, nicht abgehen."



Wenn ich die faule Tochter wäre, hätte ich mich mit einem leckeren Festmahl getröstet. Vielleicht Hühnchen...


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MARIOS MÄRCHENSTUNDE

Teil 1: "Fressen und gefressen werden"
Teil 2: "Sieben auf einen Streich"
Teil 3: "Schön blöd"
Teil 4: "Das hat dir der Teufel gesagt!"
>>Teil 5: "Wie im Märchen?"

22. März 2013

DAS HAT DIR DER TEUFEL GESAGT! (Marios Märchenstunde Teil 4)


[Teil 1] [Teil 2] [Teil 3]

Märchen spiegeln die religiösen Vorstellungen ihrer Erzähler wieder. Doch die entsprachen nicht immer unbedingt der klassischen Lehrmeinung der Kirche. In dieser Märchenstunde lesen wir Geschichten der Gebrüder Grimm, die uns Unerwartetes über Gott und die Welt berichten...



SEE YOU IN ANOTHER LIFE, BROTHER

Das Märchen "Van den Machandelboom" [erschienen in plattdeutsch in den "Kinder- und Hausmärchen" - Hochdeutsche Version hier online] erzählt von einem kleinen Jungen, der seine Mutter verloren hat und sich nun mit einer bösen Stiefmutter herumplagen muss. Zunächst scheint die Lage einigermaßen versöhnlich zu sein: Die ungeliebte Stiefmutter bietet dem Kind freundlich einen Apfel an. Doch als der Junge in die Truhe reicht, um sich die Frucht zu holen, schlägt die Stiefmutter die Kiste zu und köpft damit das Kind.

"Da kam der kleine Junge in die Tür; da gab ihr der Böse ein, dass sie freundlich zu ihm sagte: "Mein Sohn, willst du einen Apfel haben?" und sah ihn so jähzornig an.
"Mutter," sagte der kleine Junge, "was siehst du so grässlich aus! Ja, gib mir einen Apfel!" - Da war ihr, als sollte sie ihm zureden.
"Komm mit mir," sagte sie und machte den Deckel auf, "hol dir einen Apfel heraus!"

Und als der kleine Junge sich hineinbückte, da riet ihr der Böse; bratsch! Schlug sie den Deckel zu, dass der Kopf flog und unter die roten Äpfel fiel."



Die Stiefmutter ist eine vorsichtige Frau und vermutet, dass wenn man den kopflosen Jungen so auffinden würde, sie eventuell unangenehme Fragen beantworten müsste. Daher denkt sie sich einen urkomischen Streich aus. Sie setzt den Kopf wieder auf den Körper, bindet einen Schal um den Hals und bittet ihre Tochter, ihm den Apfel wegzunehmen. Als das Mädchen ihren Bruder anstupst, fällt der Kopf ab.
Die Stiefmutter beruhigt das kleine Mädchen, das nun glaubt, ihren Bruder ermordet zu haben. Sie verspricht ihr, gemeinsam die Leiche zu entsorgen, wenn die ganze Geschichte ihr kleines Geheimnis bleibt.

"Geh noch einmal hin," sagte die Mutter, "und wenn er dir nicht antwortet, dann gib ihm eins hinter die Ohren." 
Da ging Marlenchen hin und sagte: "Bruder, gib mir den Apfel!" 
Aber er schwieg still; da gab sie ihm eins hinter die Ohren. Da fiel der Kopf herunter; darüber erschrak sie und fing an zu weinen und zu schreien und lief zu ihrer Mutter und sagte: "Ach, Mutter, ich hab meinem Bruder den Kopf abgeschlagen," und weinte und weinte und wollte sich nicht zufrieden geben. 

"Marlenchen," sagte die Mutter, "was hast du getan! Aber schweig nur still, dass es kein Mensch merkt; das ist nun doch nicht zu ändern, wir wollen ihn in Sauer kochen." 






Und so geht unser fröhliches Märchen weiter, als die böse Stiefmutter die Kinderleiche in Stücke hackt und sie dann im Kochtopf mundgerecht zubereitet.

"Da nahm die Mutter den kleinen Jungen und hackte ihn in Stücke, tat sie in den Topf und kochte ihn in Sauer. Marlenchen aber stand dabei und weinte und weinte, und die Tränen fielen alle in den Topf, und sie brauchten kein Salz."

Die Stiefmutter erzählt ihrem Mann, dass der Junge für ein paar Wochen zu Verwandten auf Besuch sei. Der Vater wundert sich, dass sein Sohn sich nicht von ihm verabschiedet hat, ahnt aber nichts Schlimmes. Sein Essen schmeckt ihm übrigens an diesem Abend besonders gut.



Nun geschieht etwas, das man nicht so ohne weiteres in der Bibel findet: Reinkarnation.
Der tote Junge wird als Vogel wiedergeboren und nimmt Rache an seiner Mörderin. Der Vogel wirft der Stiefmutter nämlich einen Mühlstein auf den Kopf und zerschmettert damit ihren Schädel. Bratsch!
Danach ist der Junge plötzlich wieder lebendig in seiner alten, menschlichen Form.

Das neue Testament lehrt uns, dass wir unseren Feinden vergeben sollen, dass wir nicht mehr nach dem Prinzip "Auge um Auge" vorgehen sollen, sondern nur ewiges Leben erhalten, wenn wir Jesus folgen und die andere Backe hinhalten. Das Märchen ist da noch eher old school. Hier kann ein unschuldiges Kind dem Tod nur entkommen, in dem es auf brutale Weise seine Mörderin erschlägt.

Und als sie aus der Tür kam, bratsch! Warf ihr der Vogel den Mühlstein auf den Kopf, dass sie ganz zerquetscht wurde.

Ende gut...



DEVIL MAY CARE

Eine wichtige Figur aus der christlichen Mythologie, die in vielen Märchen anzutreffen ist, ist der Teufel. Viele Geschichten handeln davon, dass einfältige Menschen Verträge mit Satan abschließen.




"Des Teufels rußiger Bruder" berichtet von einem armen Ex-Soldaten namens Hans, der sich in die Dienste des Teufels begibt. Satan verspricht ihm lebenslangen Reichtum, falls er für ihn sieben Jahre lang arbeitet und sich dabei nie wäscht. Der junge Mann willigt ein und reinigt von nun an die Kessel des Teufels in der Hölle. Als der Hausherr einmal weg ist, guckt Satans Leiharbeiter trotz Verbot in die Kessel und sieht dort seine ehemaligen Vorgesetzten aus dem Militär. Da schürt er das Feuer gleich stärker an...
Der Teufel weiß natürlich, was Hans gemacht hat, vergibt ihm aber dafür, da er ja kein Unmensch ist.
Nach sieben Jahren erhält Hans den versprochenen Reichtum, doch kurze Zeit später stiehlt ihm jemand das hart erarbeitete Gold wieder.

Hans steigt zur Hölle hinab und beschwert sich bei Satan. Der Herrscher der Finsternis lacht spöttisch über seinen ehemaligen Arbeiter. Das kommt davon, wenn man sich mit der Personifizierung des Bösen einlässt!
Wenn die Geschichte hier zu Ende wäre, könnte man sie als Lehrstück lesen, sich nicht mit dem Teufel auf einen Vertrag einzulassen, da seine Versprechungen immer einen ungeahnten, ironischen Hacken haben. Doch das Märchen geht noch weiter und zeigt den Teufel als einen eher umgänglichen Menschen.
Er hilft seinem ehemaligen Angestellten, sein Gold zurückzubekommen, obwohl er technisch gesehen seinen Vertrag bereits erfüllt hatte. Nicht nur das: Der Teufel wäscht und kämmt den Knecht höchstpersönlich...

"Er faßte sich aber kurz, dachte, du bist ohne Schuld unglücklich gewesen, und kehrte wieder um geradezu in die Hölle; da klagte er es dem alten Teufel und bat ihn um Hülfe. Der Teufel sagte: "setz’ dich, ich will dich waschen, kämmen, schnippen, die Haare und Nägel schneiden und die Augen auswischen,"  und als er fertig mit ihm war, gab er ihm den Ranzen wieder voll Kehrdreck und sprach: "geh’ hin und sag’ dem Wirth, er sollt’ dir dein Gold wieder herausgeben, sonst wollt’ ich kommen und ihn abholen an deinen Platz." 


Hans hat nun genügend Geld, um nie wieder arbeiten zu müssen. Er zieht fortan durch's Land und macht Musik, was er vom Teufel in der Hölle gelernt hat. Dadurch kann er einen König begeistern, der die teuflische Musik so sehr mag, dass er seine Tochter mit Hans verheiratet. Als der alte Monarch stirbt, wird Hans der neue Herrscher des Reiches.

Und die Moral der Geschicht'? Wenn der Teufel dir einen Pakt anbietet, geht auf jeden Fall darauf ein! Satan ist ein fairer Arbeitgeber, der seine Versprechungen einhält, selbst wenn sein Vertragspartner Verbote missachtet und zudem gibt es wichtige Weiterbildungskurse in der Hölle, die einem berufliche Qualifikationen für das Amt eines Königs einbringen.

Man sollte also alte Vorurteile fahren lassen und niemanden für böse halten, nur weil er der Teufel ist.





SYMPATHY WITH THE DEVIL

Auch andere Märchen mit dem Teufel betonen seine Verlässlichkeit in vertraglichen Angelegenheiten. Oft verspricht er wunderbare Gegenleistungen falls man ihm Antworten auf Rätselfragen geben kann. Wie in der Erzählung "Der Teufel und seine Großmutter", in der drei desertierte Soldaten Gold von Satan erhalten. Im Gegenzug verlangt er die Seelen der Männer, falls die ihm nicht in sieben Jahren die Antwort auf ein Rätsel sagen können. Doch dummerweise verrät die Großmutter des Teufels das Rätsel und Satan verliert die Seelen. Wie gemein!

In "Von dem Teufel mit den drei goldenen Haaren" verlangt ein König vom zukünftigen Bräutigam seiner Tochter drei goldene Haare vom Kopf Satans. Erneut wird der arme Teufel von seiner Großmutter hintergangen, die ihm im Schlaf die Haare ausrupft. In früheren Fassungen der "Kinder- und Hausmärchen" werden dem Teufel die goldenen Haare dagegen von seiner Ehefrau geklaut. Der arme Kerl hat wohl nie seine Ruhe!






TEUFELSKERL

In "Der Schmied und der Teufel" geht ein armer Schmied in den Wald, um Selbstmord zu begehen. Der Teufel bietet ihm großen Reichtum an, falls der Schmied nach zehn Jahren Satan seine Seele schenkt. Kein schlechtes Geschäft: Hätte er sich im Wald aufgehängt, hätte er nicht weitere zehn Jahre lang als reicher Mann leben können und wäre dennoch ebenfalls in die Hölle gekommen, wie alle Selbstmörder. Dennoch weigert der neureiche Schmied sich nach den zehn Jahren mit dem Teufel zu gehen. Stattdessen beweist er definitiv dicke Eier und verprügelt den Teufel kurzerhand...

"Der Teufel war bereit und thats, und wie er sich in eine Maus verwandelt hatte, packte ihn der Schmid und steckte ihn in den Sack, dann schnitt er sich einen Stock von dem nächsten Baum, warf den Sack hin und prügelte auf den Teufel los. Der Teufel schrie erbärmlich, lief in der Tasche hin und her, aber umsonst, er konnte nicht heraus." 

Der Teufel verspricht, auf die Seele des Schmieds zu verzichten, wenn dieser nur aufhöre, ihn zu verprügeln.

Als der Schmied einige Zeit später das Zeitliche segnet, klopft er an die Tore des Himmelreiches, wird aber wegen seinen geschäftlichen Beziehung zu dem Teufel nicht eingelassen. So muss der Mann hinuntersteigen, um an die Pforten der Hölle zu klopfen. Doch Satan hat immer noch Angst vor dem Kerl und lässt ihn ebenfalls nicht herein...


Teufel: "Psssst! Jetzt seid mal eine Weile ganz still, dann geht er hoffentlich wieder weg..."


Der Schmied gibt sich allerdings nicht so leicht geschlagen und fängt an, einen Höllenlärm zu machen. Dies weckt die Neugier zweier Teufelchen, die herauskommen, um zu sehen, was denn dort los sei.
Der Schmied nimmt die zwei Teufelchen und nagelt sie auf brutale Weise an die Höllentür.
Satan ist entsetzt über dieses übertriebene Maß an Gewalt, fängt an zu weinen und geht zum lieben Gott, um zu petzen.

"Da fingen nun beide ein solches entsetzliches Geschrei an, daß der alte Teufel selber gelaufen kam, und wie er die zwei Teufelchen festgenagelt sah, ward er bitterbös, daß er vor Bosheit anfing zu weinen, herumsprang, in den Himmel zum lieben Gott lief, und sagte, er müsse den Schmid in den Himmel nehmen, es möge gehen, wie es wolle, der nagle ihm die Teufel alle an den Nasen und Ohren an, und er sey nicht mehr Herr in der Hölle."


Gott hat Erbarmen - mit dem Teufel. Er gewährt dem Schmied einen Platz im Himmel.
Wir lernen eine theologische Weisheit, die sich nicht unbedingt in der Bibel wiederfinden lässt: Wenn wir in den Himmel wollen, müssen wir so böse und hundsgemein sein, dass der Teufel persönlich Angst vor uns hat und uns nicht bei sich in die Hölle aufnehmen will.

"Wollte nun der liebe Gott und der Apostel Petrus den Teufel los werden, so mußten sie den Schmid in den Himmel nehmen, da sitzt er nun in guter Ruh, wie aber die beiden Teufelchen losgekommen, das weiß ich nicht."



KNOCKING ON HEAVEN'S DOOR

Es gibt friedlichere Arten, in den Himmel zu kommen, auch wenn man beim ersten Mal abgewiesen wird. In "Der Schneider im Himmel" klopft ein alter Schneider an das Himmelstor. Zunächst verweigert ihm Petrus den Zugang - da der Mann aber herzzerreißend bettelt, wird er doch noch aufgenommen.

""Ein armer, ehrlicher Schneider bittet um Einlaß."
"Ja, ehrlich, wie der Dieb am Galgen," sprach der heil. Petrus, "du hast lange Fingern gemacht und den Leuten das Tuch abgezwickt. Geh in die Hölle, wo du das Gestohlne doch hingeworfen hast, in den Himmel kommst du nicht." 

"Ach du barmherziger Gott! rief das Schneiderlein, ich hinke und habe von dem Weg daher Blasen an den Füßen, ich kann nicht wieder umkehren. Laßt mich doch in den Himmel ein, ich will gern hinter dem Ofen sitzen und die schlechte Arbeit thun, ich will die kleinen Kinder halten und reinigen, die Windeln waschen, die Bänke, darauf sie gespielt haben, abwischen und säubern, laßt mich nur ein." 

Der heil. Petrus war mitleidig, ließ sich erweichen, und machte dem Schneiderlein die Himmelspforte so weit auf, daß es hereinschlüpfen konnte."

Der Schneider ist nun im Himmel, ein heiliger, ewiger Ort, an dem Zeit und Raum keine Rolle mehr spielen. Am nächsten Tag um die Mittagszeit wünscht Gott mit seinem Gefolge in seinen Garten zu gehen und beauftragt den Schneider aufzupassen, dass niemand ungefragt in den Himmel kommt und etwas stiehlt. Dies scheint aus irgendwelchen Gründen eine realistische Gefahr für das Reich des Allmächtigen zu sein.

"Das geschah etwa um Mittag, als der Herr gerade mit den Erzengeln und dem himmlischen Heer in den Garten gehen und sich erlustigen wollte. Da befahl er dem Schneider, dieweil niemand zugegen wäre, den Himmel in Ordnung zu halten, und zu achten, daß nicht jemand käme und etwas hinaustrüge."


Der Schneider setzt sich auf Gottes Thron und beobachtet von dort aus die Welt. Er sieht einen Diebstahl, der gerade passiert und wirft wütend den Schemel Gottes nach dem Übeltäter. Dafür kickt  der HERR ihn aus dem Himmel. Aber interessanterweise gibt es in dem Märchen, anders im klassischen Christentum, noch eine Alternative zu Himmel und Hölle...

"Da mußte der heil. Petrus den Schneider wieder hinaus bringen vor das Himmelsthor, und weil er zerrissene Schuhe hatte und die Füße voll Blasen, nahm er einen Stecken in die Hand und zog nach Warteinweil, wo die frommen Soldaten sitzen und sich lustig machen."







THERE'S SOMETHING ABOUT MARY

Eine ziemlich stark abweichende Vorstellung vom Himmel finden wir in der schönen Erzählung "Marienkind".
Das Märchen beginnt, recht vertraut, mit einer bettelarmen Holzfällerfamilie, die kein Essen mehr im Hause hat. Da erscheint eines Tages die Jungfrau Maria und bietet den Eltern an, ihr einziges Kind zu sich in den Himmel zu nehmen und sich persönlich um das Mädchen zu kümmern. (Ist das nicht in der christlichen Logik das Gleiche wie "sterben"?)
Das arme Holzfällerehepaar willigt ein, ihr dreijähriges Kind in den Himmel zu schicken und so darf die Jungfrau Maria, obwohl sie nie Sex hatte, nach ihrem großen Auftritt als Mutter von Jesus jetzt auch im ewigen Leben nach dem Tod weiterhin die Mutterrolle spielen.




Als das Marienkind vierzehn Jahre alt ist, muss die Jungfrau Maria auf eine große Reise - weitere Details darüber erfahren wir leider nicht. Die Mutter Gottes überlässt ihrer Adoptivtochter dreizehn Schlüssel zu allen Toren des Himmelsreiches, verbietet ihr aber, den dreizehnten Schlüssel zu benutzen. Hinter den ersten zwölf Toren findet unser Marienkind die zwölf Apostel und hat einen Höllenspaß mit ihnen. Natürlich kann sie nicht widerstehen und öffnet auch die verbotene Tür. Dahinter befindet sich in Feuer die heilige Dreifaltigkeit. Fasziniert von seinem magischen, goldenen Glanz berührt das Mädchen den Schöpfer des Universums und schließt dann das Tor wieder.



Die Jungfrau Maria kommt von ihrer Reise zurück und fragt das Marienkind, ob sie die verbotene Tür geöffnet habe. Das Mädchen versucht sich herauszureden, wird aber dadurch verraten, dass ihre Finger golden sind, da sie die heilige Dreifaltigkeit angefasst hat.

Zur Strafe wird das Marienkind nicht nur aus dem Himmel verbannt, sondern dazu auch noch stumm gemacht. Anscheinend nimmt die Jungfrau Maria die Redensart "keine Widerworte dulden" sehr wörtlich. Das arme Marienkind muss fortan als Wilde in einem Baum leben.
Doch glücklicherweise, wie das im Märchen nun mal öfters passiert, kommt nach einiger Zeit ein König zufällig vorbei und entschließt sich spontan, das Mädchen zu heiraten.

Das Marienkind bekommt eine zweite Chance und drei Kinder vom König, im Abstand von jeweils einem Jahr. Als Strafe für ihre Neugier muss sie allerdings dauerhaft stumm bleiben. Das reicht der Jungfrau Maria aber noch lange nicht: Sie beschließt, ihrer Adoptivtochter das Leben richtig zu vermiesen und stiehlt direkt nach der Geburt jeweils die drei Babys des Königin. Die kann wegen ihrer Stummheit nichts verraten - Schreiben gehört wohl nicht zum Bildungsprogramm im Himmel.




Die Königin wird verdächtigt, ihre eigenen Kinder getötet und aufgegessen zu haben. Und da sich nicht verteidigen kann, wird sie als Menschenfresserin auf den Scheiterhaufen geführt. Dort bereut sie, dass sie in die Kammer gesehen hat und dann gelogen hat. Die Jungfrau Maria erscheint, löscht das Feuer und gibt ihr endlich ihre Kinder zurück.

Mehrere Aspekte dieses Märchens widersprechen deutlich der biblischen Lehrmeinung. Zunächst scheint es so, dass die Jungfrau Maria quasi Chef im Himmel ist und die heilige Dreifaltigkeit in einer verbotenen Kammer aufbewahrt.
In der Bibel ist der Himmel ein Ort, an dem man die ganze Zeit mit Gott höchstpersönlich abhängen kann und nicht nur mit seiner Mutter. Auch in anderen Märchen, die im Himmel spielen, ist Gott persönlich anwesend. Dagegen ist die Dreifaltigkeit in dieser Geschichte ein mysteriös golden brennendes Etwas und nicht die vertraut menschliche Gestalt Gottes als weißbärtiger weißer Mann, Jesus oder weiße Taube. Also absurd!

Im "Marienkind" ist die Jungfrau Maria eine mächtige Göttin, die man aber nicht unbedingt zur Adoptivmutter haben will. Sicher: Lügen und Autoritätsfiguren nicht zu gehorchen ist nicht unbedingt in Ordnung, wenn auch nicht ungewöhnlich für 14jährige Teenager.
Dennoch rechtfertigt es nicht, dem Mädchen die Stimme wegzunehmen und erst recht nicht ihre Babys, die ja auch die Kinder des Königs sind. Statt ihre magischen Fähigkeiten zum Wohl der Menschheit einzusetzen, ist die Jungfrau Maria auf einem wahnsinnigen Rachetrip, bei dem sie es eindeutig zu weit treibt. Immerhin entführt sie das älteste Kind, den Kronzprinzen, für mehr als zwei Jahre! Ich glaube, es ist nicht übertrieben, dies übertrieben zu nennen.

Überhaupt, wenn die Jungfrau Maria zaubern kann, hätte sie der armen Familie des Marienkindes nicht einfach Nahrung zukommen lassen? Anscheinend ist es das moralisch Richtige, stattdessen ein Kleinkind in das Reich der Toten mitzunehmen, wo es seine Eltern nie wieder sieht und immer bedingungslos gehorchen muss - sofern sie nicht den berühmt-berüchtigten, unbarmherzigen Zorn der Mutter Gottes verspüren will...





ACH WIE GUT, DASS NIEMAND WEISS...

In mehreren Märchen erscheint der Teufel in Form eines magischen Männleins, doch nicht alle magische Männlein in Märchen stellen Satan dar.
In "Rumpelstilzchen" wird ein Mädchen in eine Kammer gesperrt, um Stroh in Gold zu spinnen. Ihre Mutter hatte den Deal eingefädelt und mit dem hiesigen König vereinbart, dass ihre Tochter den Kronprinzen heiraten darf, sofern das junge Mädchen tatsächlich wie behauptet Stroh in Gold verwandeln kann. Falls nicht, wird sie hingerichtet. Der einzige Haken dabei: Natürlich kann sie es nicht.

Glücklicherweise erscheint ein kleines Männlein, das den Traum aller Alchemisten, die Verwandlung eines Elementes in ein anderes, wahr machen kann. Der Preis für seinen Service ist zunächst fair. Für eine Nacht Arbeit erhält er einen goldenen Ring. Dabei könnte man annehmen, dass jemand, der Stroh in Gold spinnen kann, keinen großen Bedarf an Goldschmuck hat.




Für die zweite Nacht erhält das Männlein ein Halsband. Obwohl das Mädchen nun zum zweiten Mal in eine Kammer voller Stroh gesperrt wurde und am nächsten Morgen in einer Kammer voller Gold wieder aufgefunden wurde, verlangt der König, dass die Goldspinnerin ihre Fähigkeiten noch ein drittes Mal demonstrieren muss.

Diesmal hat sie aber nichts, was das kleine Männlein interessiert und so verspricht sie ihm in Todesangst ihr erstgeborenes Kind. Das Männlein hat aber eine Zockermentalität und sagt dem Mädchen zu, sie dürfe ihr Kind behalten, wenn sie innerhalb von drei Tagen seinen Namen erraten könne. Dabei hat er wohl nicht bedacht, dass er das Geheimnis seines Namens nie besonders gut gehütet hatte und stattdessen im Wald laut Lieder zu singen pflegt, die das Erraten seiner Identität nicht allzu schwer machen...

"Am dritten Tag aber kam der König von der Jagd heim und erzählte ihr: ich bin vorgestern auf der Jagd gewesen, und als ich tief in den dunkelen Wald kam, war da ein kleines Haus und vor dem Haus war ein gar zu lächerliches Männchen, das sprang als auf einem Bein davor herum, und schrie:

"heute back ich, morgen brau ich,
übermorgen hohl ich der Frau Königin ihr Kind,
ach wie gut ist, daß niemand weiß,
daß ich Rumpelstilzchen heiß!""





Vielleicht war Rumpelstilzchen sturzbetrunken bei seiner nächtlichen Sing- und Tanznummer und erinnert sich nicht daran - jedenfalls ist er total schockiert darüber, dass die zukünftige Königin seinen Namen kennt. Stinkwütend macht er sich vom Acker und ward nie wieder gesehen.

"Das hat dir der Teufel gesagt! schrie das Männchen, lief zornig fort und kam nimmermehr wieder."




Die Figur des Rumpelstilzchens erinnert in vielen Aspekten an die Darstellung des Teufels in anderen Märchen. Doch durch den Satz "Das hat dir der Teufel gesagt" kann man zweifelsfrei schließen, dass Rumpelstilzchen nicht der Teufel ist und sich nicht einmal gut mit ihm zu verstehen scheint.

Für spätere Auflagen der "Kinder- und Hausmärchen" haben die Brüder Grimm das Ende des Märchens kindgerechter gemacht. Nun verschwindet das Männlein nicht mehr auf Nimmerwiedersehen, sondern zerreißt sich selbst vor Zorn in zwei Stücke. Das hat er nun davon, dass er Stroh zu Gold gesponnen hat und damit dem Mädchen das Leben gerettet hat!

Mit diesem zauberhaften geistigen Gemälde vor Augen verlassen wir das fantastische Reich der Geschichten Grimms. Ach ja, die gute, alte, heile Märchenwelt - sie erinnert mich an meine unbedarften Jugendjahre. Diese süße, süße Unschuld der Kindheit!

""Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt" schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wuth den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich selbst mitten entzwei."

(7. Auflage)



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MARIOS MÄRCHENSTUNDE

Teil 1: "Fressen und gefressen werden"
Teil 2: "Sieben auf einen Streich"
Teil 3: "Schön blöd"
>>Teil 4: "Das hat dir der Teufel gesagt!"

3. März 2013

SCHÖN BLÖD (Marios Märchenstunde Teil 3)


[Teil 1] [Teil 2]

Kannibalismus, Folter und Auftragsmord... wir setzen unsere fantastische Reise durch die wunderbare Welt der Märchen fort - mit der bezaubernden Geschichte von Schneewittchen und den sieben kleinwüchsigen Männern (hier online).





WHITE PRIDE

Unsere Geschichte beginnt, als die Königin eines namenlosen Reiches sich beim Nähen in den Finger sticht. Komisch, sollte man doch denken, dass eine Königin für so etwas Personal hat. Zum Nähen, meine ich, nicht zum in den Finger stechen. (Aber dafür auch.)

"Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee."

Da ihr die Farbkombination vom rotem Blut, weißem Schnee und schwarzen Holz extrem gut gefällt, wünscht sich die Königin spontan ein Kind in diesen Farben. Und durch einen verrückten Zufall kriegt sie tatsächlich kurz darauf ein Baby mit weißer Haut, schwarzen Haaren und roten... äh, keine Ahnung...

"Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt' ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen!
Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt."

Gut, dass es nicht Sommer war und das Blut auf eine grüne Wiese gefallen ist. Das sähe wohl eher seltsam aus.

Genau erfahren wir nicht, wie die Näh-Episode und das Erscheinungsbild von Schneewittchen zusammenhängen. War es ein Zufall oder wurde der Königin tatsächlich von irgendwem (Allah?) ihr Wunsch erfüllt? Falls letzteres stimmt, hätte die Dame sich lieber ein langes Leben wünschen sollen, anstatt die Haarfarbe ihrer Tochter bestimmen zu dürfen. Die Chancen, dass Schneewittchen als Kind zweier weißer Menschen selbst auch eine weiße Hautfarbe hat, stünden wohl auch ohne magische Intervention gar nicht so schlecht.




MIRROR, MIRROR ON THE WALL

Kurz nach der Geburt der Prinzessin stirbt die Königin und wird innerhalb eines Jahres durch eine neue ausgetauscht. Die neue Königin ist die attraktivste Dame im ganzen Land. Einen weiteren Grund, warum der König sie zu seiner neuen Gemahlin macht, scheint es nicht zu geben.
Und ich hab mir in meinen kindlichen Fantasie immer ausgemalt, Könige würden ihre Frauen in erster Linie auf Grund ihrer Herkunft aus mächtigen Adelsfamilien heiraten und nur ihre Konkubinen allein wegen deren Attraktivität aussuchen. Die Naivität der Jugend...

"Und wie das Kind geboren war, starb die Königin. Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, dass sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden."





Die neue Königin besitzt einen sprechenden Spiegel, der Informationen gegen Reime tauscht.

"Sie hatte einen wunderbaren Spiegel wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie: 
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

so antwortete der Spiegel: 
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land.« 

Da war sie zufrieden, denn sie wusste, dass der Spiegel die Wahrheit sagte."

Fragt sich, woher die Königin so genau weiß, dass der Spiegel nicht lügt. Auch auf die Gefahr hin, mal wieder eine Bildungslücke zu offenbaren: Ist es etwa eine allgemein bekannte Tatsache, dass sprechende Spiegel besonders vertrauenswürdig sind? Ich hätte eher vermutet, dass sie notorische Lügner sind und einen noch fetter und hässlicher aussehen lassen als man eh schon ist, diese heimtückischen Bastarde.

Wieso ist sich die Königin überhaupt so sicher, dass der Spiegel nicht nur diesen einzigen Satz sprechen kann? Bisher hat er ja nie etwas anderes gesagt.
Oder vielleicht erzählt er ihr nur das, was sie hören will, damit er seine Ruhe hat, um die Dinge zu tun, die Spiegel nun mal so tun - was immer das sein mag (Spiegeln? Wochenmagazine schreiben? Kokain?).


Schönste Frau im Lande, mit den Traummaßen 50-30-170


Woher der Spiegel seine Informationen hat, wird uns nicht mitgeteilt. Aber anscheinend sollen wir glauben, dass er allwissend ist und jede Frage wahrheitsgemäß beantwortet, solange sie sich reimt.
Dass die Königin einen solchen Wunder-Spiegel einzig und allein dazu benutzt, ein magisches "Hot or Not"-Ranking zu veranstalten, zeigt wohl, dass sie tatsächlich sehr doll auf ihr Aussehen fixiert ist. Gäbe es nicht unendlich viele weitere nützliche Anwendungsmöglichkeiten, außer ständig nach attraktiven Frauen suchen zu lassen? Na gut, das könnte man vom Internet auch behaupten (- wenn man geisteskrank ist).



WHO IS THE FAIREST OF THEM ALL?

Es vergehen ein paar Jahre, Schneewittchen wird älter und schöner - und eines Tages ändert sich die Antwort des Spiegels...

"Als diese einmal ihren Spiegel fragte: 
»Spieglein, Spieglein an der Wand,
Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

so antwortete er: 
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr.«"

Diese zwei Zeilen widersprechen sich. Inwiefern soll die Königin die Schönste "hier" sein? Immerhin wohnt ihre noch schönere Stieftochter im selben Schloss wie sie.
Na ja, egal, Hauptsache, es reimt sich, denn was sich reimt ist gut, sagte einmal ein weiser Klabautermann.

Aber warum hat der blöde Spiegel die Königin nicht mal ein wenig früher warnen können, als Schneewittchen nur beispielsweise 800 oder 900 mal schöner als ihre Stiefmama war?
Mich würden auch mal die exakten, objektiven Kriterien interessieren, die bestimmen, dass Schneewittchen schöner ist als die Königin, und zwar genau um den Faktor 1000. Da der Spiegel ja stets die Wahrheit verkündet, muss es die ja geben. Leute, die glauben, Schönheit liege im Auge des Betrachters, scheinen sich zu irren, denn der Spiegel hat ja nicht einmal Augen.
Oder verkündet der Spiegel tatsächlich nur seine subjektive Meinung, wer denn nach seinem persönlichen Geschmack hübscher sei?

"Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid. Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum - so hasste sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, dass sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte."


Da die Königin unbedingt vom sprechenden Spiegel für die schönste Dame der Nation gehalten werden will, muss Abhilfe geschaffen werden. Keine Sorge, die Frau spritzt der jungen Prinzessin nicht etwa Säure ins Gesicht oder so - es ist ja ein Märchen für Kinder. Es scheint Ihrer Majestät stattdessen die beste Lösung zu sein, ihre Stieftochter ermorden zu lassen und ihre Organe zu verspeisen.



MY LITTLE RUNAWAY

Unglücklicherweise kennt die Königin wohl keine Ritter, Soldaten, Henker oder Ninjas - Männer, deren Beruf es ist, Menschen zu töten, und die deshalb den Job ohne Skrupel durchziehen würden. So beauftragt sie einen Jäger mit dem Mordanschlag.

"Da rief sie einen Jäger und sprach: 
"Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen.""


Ein geübter Mörder würde der nichts ahnenden Prinzessin wahrscheinlich einen Pfeil durch den Rücken jagen oder ein Messer, so dass sie ihren Tod nie kommen sieht. Nicht aber der Jäger, der wahrscheinlich bisher nur geistig behinderte oder blinde Tiere erfolgreich töten konnte.

"Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: 
»Ach, lieber Jäger, lass mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen.«"


Der Umstand, dass der Jäger ein moralisch integerer Mensch ist, rettet Schneewittchen das Leben. Ein so schönes Mädchen ermorden, denkt er sich, wäre doch schade drum! Wenn die Alte hässlich wäre, klar! Aber so bringt er es nicht über sein gutes Herz.

"Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: 
»So lauf hin, du armes Kind!«"





Töten ist Sünde, findet der Jäger, und lässt Schneewittchen allein in einem Wald, in dem sie höchstwahrscheinlich sehr bald von wilden Tieren getötet wird. Von denen wimmelt es nämlich in diesem Wald. Kein Wunder, bei der suboptimalen Jagdmethode, dem sich-frontal-mit-einem-Messer-in-der-Hand-Anschleichen.
Immerhin funktioniert es manchmal bei Baby-Tieren.

"Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben, dachte er, und doch war's ihm, als wäre ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. 

Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch musste sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen."


Schneewittchens Stiefmutter verkörpert die stereotype Märchenrolle der bösen Stiefmutter. Jedoch nicht in allen Versionen: So ist es in der ersten von Grimm veröffentlichten Auflage der "Kinder- und Hausmärchen" von 1812 noch die leibliche Mutter, die ihre Tochter zum Fressen gern hat...



SMALL HOUSE MOVEMENT

Anstatt nach Hause zu gehen und ihrem Vater, dem König, zu erzählen, dass ein Jäger sie beinahe ermordet hat, rennt Schneewittchen auf und davon, bis sie schließlich am Abend an eine kleine Hütte kommt. Da das Haus nicht abgeschlossen ist, geht Schneewittchen hinein.

Obwohl die Besitzer der Hütte nicht anwesend sind, stehen ihre Teller gedeckt auf dem Tisch.


"Es lief, so lange nur die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden wollte. Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. 

Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblelein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt." 

Ich kann nicht genau sagen, warum, aber irgend etwas sagt mir, dass in der Hütte genau sieben Menschen wohnen. Vielleicht habe ich hellseherische Fähigkeiten.
Wahrscheinlich...
Bestimmt!


Schneewittchen isst ein wenig, trinkt etwas Wein und geht dann schlafen, da sie von dem langen Marsch und dem anschließenden Einbruch und Diebstahl müde geworden ist. Doch das stellt sich als gar nicht so leicht heraus, wie man vielleicht denken könnte.

"Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs' und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem alles wegnehmen. 
Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war; und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein."

Wer kennt nicht das Problem, dass das Bett zu lang ist? Eines der großen Probleme der Menschheitsgeschichte.

Doch dann geschieht etwas, mit dem niemand hätte rechnen können. Und mit "niemand" meine ich "jeder". Die Bewohner des Hauses kehren schließlich zurück in ihr Heim an ihren gedeckten Tisch.

In vielen mythologischen Erzählungen gibt es kleine, magische Wesen, die als Zwerge bezeichnet werden. Die "Zwerge" in "Schneewittchen" sind allerdings ganz normale Menschen mit geringer Körpergröße. Dazu passt auch ihr Beruf als Bergmänner im Erzgebirge. Da damals nämlich die Stollen mit der Hand aus dem Berg geschlagen wurden, machte man sie so eng wie möglich und stellte kleine Menschen als Bergarbeiter ein, also Kinder und Kleinwüchsige.


"Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. 
Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gesessen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten."

Vielleicht hätten sie die Tür einfach abschließen sollen. Unwahrscheinlich, dass Schlösser knacken zu den Dingen gehört, die eine durchschnittliche Prinzessin beherrscht.


"Der erste sprach: »Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?« 
Der zweite: »Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?« 
Der dritte: »Wer hat von meinem Brötchen genommen?« 
Der vierte: »Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?« 
Der fünfte: »Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?« 
Der sechste: »Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?« 
Der siebente: »Wer hat aus meinem Becherlein getrunken?« 
Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: 
»Wer hat in mein Bettchen getreten?«"

Dafür dass alle sieben Bewohner des Hauses gemeinsam heimkehren und es daher unmöglich einer von ihnen gewesen sein kann, stellen sie ganz schön viele dumme Fragen...



HERE BE DRAGONS

Die WG-Bewohner finden plötzlich die Schönste im ganzen Land unerwartet in ihrem Bett. Geht mir auch ständig so.

"Die anderen kamen gelaufen und riefen: 
»In meinem hat auch jemand gelegen!« 
Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Schneewittchen, das lag darin und schlief. Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Schneewittchen.
 »Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!« riefen sie, »was ist das Kind so schön!« 
Und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen." 




Der arme "siebente Zwerg", der wie seine Kollegen keinen Namen zu haben scheint, muss jede Stunde aufwachen und das Bett wechseln, weil... Weiß auch nicht.
Am nächsten Morgen erwacht Schneewittchen und ist völlig überrascht davon, dass in der Hütte mit dem gedeckten Tischen und den gemachten Betten Leute wohnen...

"Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum. Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es."


Die Männer bieten Schneewittchen einen Deal an. Sie macht den Haushalt und bekommt im Gegenzug Kost und Logis. Jeder weiß, dass Prinzessinnen die qualifiziertesten Personen für Arbeiten im Haushalt sind.

"Die Zwerge sprachen: »Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen.« 
»Ja«, sagte Schneewittchen, »von Herzen gern!« und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung. Morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein." 


So kommt es, dass Schneewittchen bei den Bergmännern Unterschlupf findet. Die sind zwar freundlich, aber auch ein wenig langweilig.
In alternativen Versionen des Märchens wohnt Schneewittchen immerhin bei Räubern.
Aber das ist nichts im Vergleich zu einer Fassung, die in Albanien erzählt wurde. Darin wohnt Schneewittchen bei vierzig Drachen, was nach allen wissenschaftlich objektiven Maßstäben unbestritten sehr viel cooler ist.



MAN IN THE MIRROR

"Den ganzen Tag über war das Mädchen allein; da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: »Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein!«"

Da Schneewittchen den ganzen Tag im Haus bleibt, kann sie eigentlich niemandem ihren Aufenthaltsort verraten. Wieso sind sich also die Bergmänner - die jetzt nicht einmal mehr "Zwerge" sein dürfen, sondern nur noch "Zwerglein" - so sicher, dass die Königin jemals etwas von Schneewittchens Versteck erfährt? Klar, die Königin besitzt einen Zauberspiegel, aber davon geht man doch normalerweise nicht einfach aus, das ist doch eher die Ausnahme.
Ich denke, sie wollen einfach mit ihrer neuen Haushälterin vor ihren Kumpeln auf der Arbeit angeben. 
So etwa: "Heigh-Ho! Na, Kollege, was macht denn deine Haushälterin heute zu essen?! Ooooh ja, ich hab ja ganz vergessen, du hast ja gar keine! Harharharhar! Bitch!"




"Die Königin aber, nachdem sie Schneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die Erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach:
»Spieglein, Spieglein. an der Wand, 
Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

Da antwortete der Spiegel:
»Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, 
Aber Schneewittchen über den Bergen 
Bei den sieben Zwergen 
Ist noch tausendmal schöner als Ihr.«"


Durch den Spiegel erfährt die böse Königin nicht nur, dass Schneewittchen immer noch lebendig ist - oder aber selbst als Leiche schöner ist als sie - sondern auch, wo sie sich versteckt hält.
Dies war streng genommen nicht Teil der direkten Antwort auf die Frage, wer (und nicht wo) die Schönste im ganzen Land sei. Dies bedeutet, der Spiegel ist kein einfaches Wahrheitsfindungsinstrument, sondern ein magisches Wesen mit einer individuellen Persönlichkeit. Da stellt sich mir die Frage: Woher kommt der Spiegel?

Hat er schon immer existiert, von Anbeginn der Zeit? Oder wurde er durch Magie erschaffen, vielleicht durch die Königin selbst? Oder ist es ein verzauberter Mensch? Oder kam er auf natürlichem Wege in diese Welt, als ein männlicher und ein weiblicher sprechender Spiegel sich ganz doll lieb hatten und... irgendwas gemacht haben? Ich will es mir eigentlich gar nicht vorstellen...

Um diese Frage zu klären, sollte mal jemand ein Prequel drehen.
Als Slogan für den Trailer könnte man zum Beispiel dies hier nehmen, falls es ein Drama ist: [Traurige Klaviermusik, tiefe Männerstimme] "Anton Spiegelstein war anders als alle anderen, etwas ganz besonderes. Er hatte die Fähigkeit, die ganze Welt zu sehen. Doch das einzige, was er niemals sehen konnte... war er selbst. "Der Spiegel zur Seele", jetzt im Kino".
Oder falls es ein Horrorfilm sein soll: [Ominöse Trommeln, Soundeffekte: Schneller, lauter Atem und Herzschlag]: "Du denkst, du kannst entkommen. Du denkst, er kann dich nicht finden. Doch... Vor seinem Spiegelbild kann man sich nicht verstecken. [Soundeffekt: SCHREI!] "Mirror Man: Awakening" In 3D".
Oder als Komödie: [Hohe, hysterische, alberne "Männer"-Stimme] "Um die Schönste im ganzen Land zu kriegen [Soundeffekt: Kratzen einer Schallplattennadel, dann "Walking on Sunshine"]... muss man ganz schön glänzen! Rob Schneider ist "Mirror Man - Ich seh' was, das du nicht siehst!".

Das schreibt sich ja fast von alleine... Also, Hollywood, wenn du das hier liest, ruf mich an!



LET THE RIGHT ONE IN

Obwohl die Ortsangabe "über den Bergen" nicht furchtbar exakt ist, kann die Königin ihre Stieftochter schnell ausfindig machen. Vielleicht sind die "sieben Zwerge" überregional bekannt. Sie verkleidet sich als Vertreterin für Korsetts und klopft bei Schneewittchen an der Tür. Trotz der Warnung, dass sie niemanden hereinlassen soll, lässt Schneewittchen sie auf der Stelle herein, da sie ihrer Meinung nach "ehrlich" aussieht.
Bei einer vermeintlichen Demonstration ihrer Ware schnürt die falsche Vertreterin ihr die Luft ab, so dass sie besinnungslos zu Boden fällt. Die Königin gibt einen coolen Spruch von sich und macht sich aus dem Staub.

"Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen, dachte Schneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. 
»Kind«, sprach die Alte, »wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren.« Schneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren. Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Schneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. 

»Nun bist du die Schönste gewesen«, sprach sie und eilte hinaus."





Die Hausherren finden Schneewittchen am Abend so auf. Nachdem sie den Schnürriemen entfernen, erwacht sie aber sofort wieder und ist völlig in Ordnung. Dies ist seltsam, wissen wir Mediziner doch heutzutage, dass eine derart lange Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn zu einem Zustand führt, der in der Fachliteratur als "tot" bezeichnet wird.



ALL WORK AND NO PLAY

"Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei; da fing es an ein wenig zu atmen und ward nach und nach wieder lebendig."

Als die Königin von ihrem Spiegel erfährt, dass ihr Mordanschlag gescheitert ist, heckt sie einen neuen Plan aus.

"»Nun aber«, sprach sie«, will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll«, und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm."

Plötzlich erfahren wir aus heiterem Himmel, dass die Königin Hexenkünste besitzt - im Gegensatz zur Frau, die in "Hänsel und Gretel" ausschließlich als "Hexe" bezeichnet wird.
Das waren wohl härtere Zeiten früher, in denen sich nicht jeder vergiftete Kämme leisten konnte, denn damals brauchte man dafür offenbar Hexenkünste. Heute würde man wahrscheinlich einfach Gift benutzen.

Schneewittchen ist nun aber vorgewarnt. Sie weiß, dass ihre Stiefmutter ihren Aufenthaltsort kennt und dass sie wahrscheinlich verkleidet ist, wie zum Beispiel beim letzten Mal als alte Frau.
Die Königin kann Schneewittchen aber dadurch überlisten, dass sie sich als "andere" alte Frau verkleidet...

"Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines anderen alten Weibes an."

Genial.

"Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: »Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen.« Das arme Schneewittchen dachte an nichts, ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. 

»Du Ausbund von Schönheit«, sprach das boshafte Weib, »jetzt ist's um dich geschehen«, und ging fort."




Entweder ist Schneewittchen extrem blöd oder sehr schlau. Auf den selben Trick zweimal hereinzufallen ist nicht sehr klug - aber vielleicht war es ja Absicht...
Durch den ersten Vorfall weiß Schneewittchen, dass man sie temporär außer Gefecht setzen kann, sie aber prinzipiell unsterblich ist - was sich dadurch bestätigt, dass ihre Gastgeber den giftigen Kamm entfernen und Schneewittchen schlagartig wieder vollkommen gesund ist.
Wahrscheinlich wollte sie sich einfach vor der Hausarbeit drücken...



THIRD TIME'S THE CHARM

Natürlich erfährt die Königin durch ihren Spiegel wieder, dass ihre Stieftochter immer noch am Leben ist. Nachdem sie es mit Tod durch Strangulieren versucht hat und dann mit Gift, versucht sie es nun... mit Gift? Sehr kreativ...

"Darauf ging sie in eine ganz verborgene, einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben." 


Wenn ich die böse Königin wär - leider fehlt mir dazu noch eine Krone - wäre ich zum Haus gegangen, hätte die Tür verriegelt und die ganze Hütte abgebrannt. Da hätten die dann obdachlosen Bergleute einmal schauen können, wie sie Schneewittchen wieder zum Leben erwecken, wenn sie nur noch aus Asche besteht!
Na ja, vielleicht sollte ich nicht so stolz darauf sein, besser im Bösewichttum zu sein als die Königin, die ihre eigene Stieftochter töten und essen will.
Oder doch?..

Vielleicht hätte es auch eine diplomatische Lösung getan. So hätte die Königin ihren Mann bestimmt unter einem Vorwand davon überzeugen können, das Land, auf dem das Haus der Zwerge steht, an ein anderes Königreich zu verschenken. Dann wäre sie auch ohne Schneewittchens Tod wieder die Schönste im ganzen Land.

Allerdings sieht die Apfel-Methode ebenfalls erst einmal erfolgversprechend aus. Die böse Königin kann Schneewittchen davon überzeugen, in den giftigen Apfel zu beißen und Schneewittchen scheint mal wieder tot zu sein.

"Und als sie daheim den Spiegel befragte:
»Spieglein, Spieglein an der Wand, 
Wer ist die Schönste im ganzen Land?«

so antwortete er endlich:
»Frau Königin, Ihr seid de Schönste im Land.«

Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann."





WHAT IS DEAD MAY NEVER DIE

Diesmal gelingt es den Bergarbeitern nicht, Schneewittchen von den Toten zurückzuholen. Sie schenken die Leiche einem zufällig vorbeireisenden Prinzen, der Schneewittchens Leiche in seinem Palast ausstellen will, wahrscheinlich neben seinen ausgestopften Tieren.
Als die Diener des Prinzen beim Transport des Sarges stolpern, rutscht das Stück vom vergifteten Apfel aus Schneewittchens Hals und sie ist wieder völlig okay.

 "Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig." 





Der Prinz gesteht seine tiefe, seelendurchdringende Liebe zu Schneewittchen, mit der er zuvor noch nie gesprochen hat und über die er rein gar nichts weiß - eine Liebe, die darauf beruht, dass er sie wahnsinnig attraktiv findet. Also etwas, das für die Ewigkeit gemacht ist, denn Schönheit ist ja bekanntlich unvergänglich.
Dies ist höchstwahrscheinlich die beste und stabilste Grundlage für eine Ehe, die es gibt, denkt sich der Prinz und bittet Schneewittchen, ihn zu heiraten. Na gut, es ist technisch gesehen nicht direkt eine Bitte, sondern mehr eine Aufforderung. Romantik pur!

"»Ach Gott, wo bin ich?« rief es. Der Königssohn sagte voll Freude: 
»Du bist bei mir«, und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: 
»Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden.«"


So feiern die beiden Hochzeit. Wahrscheinlich bin ich einfach spießig - und es war ja auch eine andere Zeit damals - aber dennoch finde ich, Schneewittchen ist ein wenig zu jung dafür. Sie könnte wirklich noch ein, zwei Jahre warten, bevor sie heiratet.
Oh, sorry, ich hatte vergessen zu erwähnen, wie alt sie in dem Märchen ist.

"Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst." 



PUT ON YOUR RED SHOES AND DANCE THE BLUES

Viele Menschen sind eher mit dem Ende aus der Disney-Verfilmung vertraut. Darin wird Schneewittchen vom Prinzen, den sie dort zuvor schon im Wachzustand kennengelernt hatte, mit einem Kuss wiedererweckt.
In der Version der Grimms ist es ab der zweiten Auflage eine Erschütterung beim Sargtransport. In der ersten Fassung von 1812 ist das noch anders. Falls ihr also Wert auf Authentizität legt, solltet ihr euren Kindern diese Variante vorlesen.

In der ersten Auflage nimmt der Prinz ebenfalls den Sarg mit, jedoch wacht Schneewittchen davon nicht auf. Auch nicht, als er regelmäßig mit der sexy Siebenjährigen intim wird. Erst als ein Diener, der davon angewidert ist, Schneewittchen auf den Rücken schlägt, erwacht sie wieder. Happy End!

"Ein Prinz kommt vorbei und bittet die Zwerge, ihm den Sarg zu geben, nimmt ihn mit und daheim läßt er es auf ein Bett legen und putzen, als wär es lebendig, und liebt es über alle Maßen, ein Diener muß ihm auch beständig aufwarten. 
Der wird einmal bös darüber: „da soll man dem todten Mädchen thun, als wenn es lebte!“ giebt ihn einen Schlag in den Rücken, da fährt der Apfelbissen aus dem Mund, und Sneewittchen ist wieder lebendig."





Na gut, vielleicht hatte der Prinz auch keinen Sex mit dem komatösen Kind, "liebt es über alle Maßen" könnte auch harmloser gemeint sein. Aber meine Vermutung entspringt nicht allein meiner perversen Fantasie, sondern basiert auf einer guten, alten Märchentradition (dazu gleich mehr...).

Bestenfalls weckt das ursprüngliche Ende leise Zweifel über den Geisteszustand des Prinzen, der eine Kinderleiche so behandelt, als wäre sie lebendig...
Dies haben die Grimm-Brüder in der zweiten Auflage korrigiert, um das Märchen kindgerechter zu machen. Außerdem haben sie noch eine Szene hinzugefügt, in der die böse Stiefmutter auf Schneewittchens Hochzeit brutal zu Tode gefoltert wird.
Ansonsten hätten sich die Kinder wahrscheinlich beschwert, dass die Geschichte zu wenig verstörend ist.

"Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. 
Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel."

Und nun schlaft schön, Kinder.





I JUST WANT YOUR EXTRA TIME AND YOUR
KISS

Das Motiv des Wachküssens gibt es zwar in der Grimm'schen Fassung von "Schneewittchen" nicht, dafür aber in "Dornröschen". Dieses Märchen beginnt, als ein kinderloses Königspaar von einem sprechenden Krebs (in späteren Auflagen ist es ein Frosch) die Prophezeiung erhält, dass die Königin bald eine Tochter bekommen wird.
Um dies zu feiern, richten die Eltern in spe ein großes Fest aus. Sie laden unter anderem alle großen Feen des Landes ein - bis auf eine: Blöderweise haben sie nämlich nur zwölf goldene Teller, aber dreizehn Feen.
Die ungeladene Fee kommt trotzdem und sagt voraus, dass sich das Kind im Alter von 15 Jahren an einer Spindel stechen und daran sterben werde. Die anderen Feen können dies zwar nicht rückgängig  machen, allerdings sind sie in der Lage, den Tod in einen hundertjährigen Schlaf umzuwandeln.

Der König erklärt Spindeln für illegal und macht damit einen ganzen Berufsstand in seinem Reich arbeitslos. Er tut alles Erdenkliche, um seine Tochter vor dem prophezeiten Schicksal zu retten. Na gut, fast alles: Auf die Idee, sie rund um die Uhr von einem Diener bewachen zu lassen, kommt er nicht. Und so sticht sich Dornröschen an einer Spindel und fällt ins Koma, zusammen mit allen anderen Menschen in dem Schloss, das plötzlich von magischen Dornensträuchern umwuchert wird.




Einige Prinzen versuchen sie zu befreien, sterben aber in den Dornen. Schließlich schafft es ein Prinz durchzudringen und entdeckt Dornröschen. In späteren Auflagen passiert dies an dem Tag, an dem Dornröschen sowieso auch von selbst erwacht wäre, in den früheren Fassungen heißt es nur, es sei nach "langen, langen Jahren" geschehen.
Da der Prinz von Dornröschens Schönheit betört ist, küsst er die bewusstlose Frau kurzerhand. Heutzutage würde man das wohl sexuelle Belästigung nennen.
Durch den Kuss erwacht sie und mit ihr der ganze Hofstaat. Doch nicht in allen Fassungen der Geschichte...




"Dornröschen" wurde in Variationen in ganz Europa erzählt. Eine Fassung namens "Sonne, Mond und Thalia" wurde bereits 1634 von dem italienischen Märchensammler Giambattista Basile aufgeschrieben [hier online]. Darin vergewaltigt der Prinz die schlafende Schönheit und schwängert sie.
Sie bekommt Zwillinge, die an ihrem Daumen lutschen und so den Splitter entfernen, der sie im Tiefschlaf gefangen hielt. Unsere Märchenprinzessin wacht auf und hat nun zwei ungewollte Kinder von ihrem Vergewaltiger an der Backe.

...

Überraschung!



SOMEDAY MY PRINCE WILL COME

"Schneewittchen" ist auch im 21. Jahrhundert noch fast allen Menschen ein Begriff. Es gibt unzählige Adaptionen:
-- Als Trickfilm - wie z.B. die Disney-Version von 1937, der erste abendfüllende Trickfilm des Studios,
-- als Spielfilm - wie z.B. "Mirror, Mirror" mit Julia Roberts und der Tochter von Phil Collins und "Snow White and the Huntsman" mit Kristen Stewart und Charlize Theron, um nur zwei Beispiele aus dem Jahr 2012 zu nennen,
-- Als TV-Serien - wie z.B. "Once Upon A Time" vom Disney-Fernsehsender ABC, oder auch
--- als Pornofilm.




Warum ist das Märchen so beliebt? Nun ja, durch "Schneewittchen" lernen unsere Kinder eine wichtige Tatsache, die heutzutage manchmal in Vergessenheit gerät. Nämlich, dass Frauen nur dazu da sind, um gut auszusehen.
Schneewittchen glänzt nicht gerade durch ihre Cleverness, doch ihre Schönheit rettet ihr gleich zwei mal das Leben. Zunächst verschont sie der Jäger aus diesem Grund. Später, als sie den vergifteten Apfel gegessen hat, entscheiden sich die sieben Bergmänner wegen ihrer Attraktivität dagegen, Schneewittchen zu beerdigen. In dem Zustand kann sie eh ihre Hauptaufgabe, gut aussehen, umso besser ausführen, da sie sich so nicht mehr wegen ihrer Dummheit ständig in Schwierigkeiten begibt. Also packen die Bergarbeiter sie wie ein Museumsstück in eine gläserne Truhe.

"Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch und hatte noch seine schönen, roten Backen. Sie sprachen: 
»Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken«, und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und daß es eine Königstochter wäre."





Schneewittchen verkörpert die ideale weibliche Märchenfigur: Schön, aber blöd. Wenn Frauen in den von den Grimm aufgezeichneten Geschichten Intelligenz zeigen, dann geschieht das fast immer in Form von Intrigen und Hinterlistigkeit. Schlaue Frauen sind in der Regel die Bösen: Entweder die böse Stiefmutter oder eine Hexe. Oder beides, wie die eitle Königin in "Schneewittchen".
Und selbst die benutzt ihr böses Genie und ihren Zauberspiegel einzig und allein dazu, um wieder die schönste Frau im Land zu werden.

Das Beste, das eine moralisch gute Frau in ihrem Leben als Märchenfigur erreichen kann, ist die Hochzeit mit einem Traumprinzen, um später mal Dekoration an der Seite eines Königs spielen zu dürfen.
Dabei ist Schneewittchen, wie viele andere Märchenhauptfiguren auch, selbst die Tochter eines Königs. Die Grimms, die sich ja auch sonst nicht davor scheuten, Volksmärchen drastisch umzuschreiben, hätten die Geschichte also auch damit enden lassen können, dass Schneewittchen als einziges Kind des Königs den Thron erbt und aktiv ein Reich regieren darf.
Dies wäre im 19. Jahrhundert auch nichts Nochniedagewesenes. Immerhin regierten Mary und Elisabeth Tudor England ab 1553 für ein halbes Jahrhundert und vor dem Erscheinen der letzten Auflage von Grimms Märchen trat Queen Victoria ihre noch längere Herrschaft über das britische Empire an. Doch keines der Märchen Grimms endet mit einer regierenden Königin.

Diese Sicht, dass Aussehen wichtiger ist als Verstand, Talent, Mitgefühl etc. ist ein furchtbares, Brechreiz inspirierendes Frauenbild aus einem dunklen Zeitalter - oder wenn ich es noch drastischer formulieren darf, es erinnert an "Germany's Next Topmodel".



THESE ARE THE GOOD TIMES

"Schneewittchen" kann auf verschiedenste Weise gedeutet werden. Eine mögliche Interpretation ist, dass das Märchen eine christliche Allegorie ist.
Der Apfel könnte dabei für die verbotene Frucht im Garten Eden stehen, die traditionsgemäß auch oft als Apfel dargestellt wird. Obwohl Schneewittchen niemandem die Türe aufmachen soll, lässt sie sich von der bösen Stiefmutter verführen, die als Schlange verkleidet ist, was Satan repräsentiert, der in der Bibel als Bäuerin verkleidet ist.
Wartet mal... Kann sein, dass ich da was verwechsele.

Der todesähnliche Zustand von Schneewittchen symbolisiert die Sünde, in der die Menschen leben, seitdem Gott sich als Satan verkleidet hatte, um die böse Schwiegermutter dazu zu überreden, die Schlange zu essen.

Der Prinz verkörpert Jesus, der uns von der Sünde befreit, in dem er siebenjährige Kinder heiratet. Oder war das Mohammed?.. Ne, Quatsch, das war ja eine Sechsjährige! Ich Doofkopf.

Ach ja, die guten alten Zeiten...






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MARIOS MÄRCHENSTUNDE

Teil 1: "Fressen und gefressen werden"
Teil 2: "Sieben auf einen Streich"
>>Teil 3: "Schön blöd"